Die Rockwall ist ein 35 Kilometer langes Bergmassiv im Kootenay Nationalpark, das nur durch einen einzigen Pass unterbrochen wird. Es gehört zur Vermillion Range und ist Teil der nordamerikanischen kontinentalen Wasserscheide. An der schier endlosen Wand aus Gipfeln führt der 55 Kilometer lange Rockwall Trail entlang. Er ist berüchtigt für seine vielen Auf- und Abstiege.
Früher konnte man zur Not über den Numa Creek Trail oder den Tumbling Creek Trail aussteigen, um die Wanderung abzukürzen. Beide Routen sind jedoch seit einigen Jahren geschlossen, weil Brücken weggeschwemmt und noch nicht ersetzt wurden. Man muss zurzeit (Juli 2018) also in jedem Fall die gesamte Strecke bewältigen. Die meisten Wanderer nehmen sich vier bis fünf Tage Zeit dafür. Ich werde sogar sechs Tage auf meiner Tour verbringen, weil ich eine zusätzliche Tageswanderung zum Goodsir Pass einbaue.
Nach den positiven Erfahrungen mit dem Maligne Canyon Wilderness Hostel in der Nähe von Jasper, werde ich die erste Nacht im Castle Mountain Wilderness Hostel verbringen. Es liegt zwischen Lake Louise und Banff an der Castle Junction. Von dort führt Highway 93S in den Kootenay Nationalpark, wo meine Wanderung am Paint Pots Trailhead beginnen wird.
Die 600 Kilometer lange Fahrt nach Castle Junction dauert mit Pausen zum Essen und Tanken etwa sieben Stunden.
Da es noch recht früh ist und das Wetter gut, empfiehlt mir die Betreuerin des Hostels einen Spaziergang zu den Silverton Falls. Es tut gut, mir nach der langen Fahrt die Beine zu vertreten und der Wasserfall erweist sich als ein attraktives Ziel. Auf dem Rückweg beeile ich mich, denn es hat sich bewölkt und fängt an zu nieseln.
Das Hostel ist eine einfache, aber gemütliche Unterkunft. Es hat zwei Schlafsäle für je 14 Personen und bietet alle sanitären Einrichtungen einschließlich Duschen, was für Wilderness Hostels nicht selbstverständlich ist. Beim Abendessen lerne ich eine ältere Dame kennen, die ursprünglich aus Deutschland stammt, aber schon lange in Kanada lebt. Sie und ihre Freundin sind passionierte Wanderinnen und gute Beispiele dafür, dass man sich durch Wandern jung und fit halten kann. Sie haben viel zu erzählen, der Gemeinschaftsraum ist behaglich, und so wird es ein unterhaltsamer Abend.
Entfernung | 15,2 km |
Dauer | 4 ¼ Std |
Inkl. Pausen | 5 ½ Std |
Min. Höhe | 1422 m |
Max. Höhe | 1777 m |
Anstieg | 355 m |
Kum. Anstieg | 679 m |
Kum. Abstieg | 360 m |
Bei sonnigem und leicht bewölktem Wetter fahre ich die kurze Strecke auf dem Highway 93S zum Paint Pots Wanderparkplatz, dem Startpunkt des Rockwall Trails. Die Paint Pots sind auch ein beliebtes Ziel für Tagesausflügler, aber so früh ist noch niemand unterwegs. Ich habe keine Schwierigkeiten, einen Parkplatz zu finden. Am Ende der Wanderung werde ich 13 Kilometer weiter am Floe Lake Wanderparkplatz herauskommen. Ich bin zuversichtlich, dass ich eine Mitfahrgelegenheit zurück zu meinem Auto finden werde.
Wir haben die Paint Pots vor vielen Jahren schon einmal besucht. Dort befinden sich drei eisenhaltige Mineralquellen, die dem Boden ringsum eine rot-gelbe, fast orange Farbe geben. Das Wasser der Quellen ist sehr metallisch und sauer. Der ockerfarbene Lehmboden bildet einen hübschen Kontrast zum grünen Gras. Die Paint Pots waren einst ein spiritueller Ort für die Ktunaxa First Nations. Sie stellten aus dem Ocker Farbe her, die sie zu zeremoniellen Zwecken benutzten. Im frühen zwanzigsten Jahrhundert wurde der Ocker industriell abgebaut. Man findet noch herumliegende Maschinenteile aus dieser Zeit.
Es gibt viele ausgetretene Pfade um die Paint Pots herum, so dass ich eine Weile herumirre, bevor ich den richtigen finde: den Ochre Creek Trail.
Die nächsten Wegkreuzungen sind gut beschildert. Der Pfad folgt dem Ochre Creek für sechs Kilometer und schlängelt sich durch Wald und Wiesen. Seine vielen Nebenbäche überquere ich auf schmalen, behauenen Stämmen. Eine gut ausgebaute Brücke führt schließlich über den Ochre Creek selbst, auf dessen anderer Seite der Helmet/Ochre Junction Campground liegt. Er wird wenig frequentiert und ist mit nur sechs Plätzen sehr klein.
Über einige Serpentinen wechselt der Weg vom Tal des Ochre Creek ins Tal des Helmet Creek. Hier heißt er Helmet Creek Trail und er wird mich schlussendlich zum eigentlichen Rockwall Trail bringen. Es öffnen sich erste Ausblicke auf die umgebenden Berge.
Insgesamt gibt es nur wenige Steigungen an diesem ersten Tag. So macht es nichts, dass der Rucksack heute mit allen Essensvorräten fast 17 Kilogramm wiegt und diese Etappe mit gut 15 Kilometern meine längste auf dem Rockwall Trail ist.
Eine Hängebrücke überspannt den Helmet Creek. Ihr Aufgang ist extrem steil und die Schräge ist mit dem schweren Rucksack auf den Schultern gar nicht so leicht zu überwinden. Glücklicherweise besitzt die Hängebrücke einen Handlauf, denn wegen ihrer Länge schwingt sie auch noch beträchtlich.
Ich erreiche die Abzweigung zum Goodsir Pass, den ich morgen als Tagesausflug erwandern will. Ich halte mich geradeaus, passiere eine unbemannte Rangerhütte und gelange kurze Zeit später an mein Ziel, den Helmet Falls Campground. Er liegt in einem Kessel, der von Sharp Mountain, Helmet Mountain und Limestone Peak gebildet wird. Hier stürzt der im Washmawapta Icefield entspringende Helmet Creek 352 Meter tief auf den Talboden. Damit ist Helmet Falls einer der höchsten Wasserfälle in den kanadischen Rockies. Sein stetes Tosen ist weithin hörbar.
Der Campingplatz ist sehr solide angelegt. Seine Picknicktische sind so positioniert, dass sie einen wunderbaren Ausblick auf Helmet Falls und die umgebenden dramatischen Bergformationen gewähren. Man sitzt wie im Halbrund eines Amphitheaters.
Auf Empfehlung eines anderen Campers mache ich einen Spaziergang, der mich einen halben Kilometer näher an den Fuß des Wasserfalls führt. Von dort habe ich eine noch bessere Perspektive für ein Foto. Der Himmel hat sich zwar inzwischen bedeckt, aber stattdessen bringen Wildblumen ein paar Farbtupfer ins Bild.
Die 18 Zeltplätze liegen weit auseinander und sind durch Bäume und Büsche voneinander getrennt. So ist es nicht etwa das Schnarchen aus anderen Zelten, sondern das laute Rauschen des Wasserfalls, das mich in der Nacht immer wieder aufweckt.
Entfernung | 14 km |
Dauer | 4 ½ Std |
Min. Höhe | 1765 m |
Max. Höhe | 2241 m |
Anstieg | 476 m |
Am nächsten Morgen sind die Wolken verschwunden. Helmet Falls und die den Wasserfall umringenden Berge präsentieren sich vor einem tief blauen Himmel. Unter solchen Bedingungen schmeckt der Frühstückskaffee nochmal so gut, selbst wenn er nur aus Instantpulver aufgebrüht ist.
Für heute habe ich eine Tageswanderung zum Goodsir Pass geplant. Ich wandere an der Rangerhütte vorbei und zurück bis zur Abzweigung. Von dort windet sich der Weg in Serpentinen durch den Wald hinauf. Ein Erdhörnchen beobachtet mich aus seinem Versteck zwischen Wildblumen. Zum ersten Mal wird der Blick auf ein alpines Bergpanorama frei. Mount Goodsir ist mit 3567 Metern der höchste Berg im benachbarten Yoho Nationalpark und hat zwei markante Gipfel.
In der Nähe des Passes wachsen viele Lärchen.
Ich erreiche die Passhöhe bei 2210 Metern und habe freie Sicht auf die Berggipfel.
Ich gehe noch etwa einen Kilometer über den Pass hinaus. Der Pfad verschwindet im Wald und führt stetig bergab. Zwei Frauen holen mich ein. Sie sind unterwegs in den Yoho Nationalpark und werden nach einer Übernachtung auf dem McArthur Creek Campingplatz durch das Ottertail River Valley wandern und in der Nähe des Orts Field herauskommen. Da sich nach der Passhöhe keine besonderen neuen Ausblicke ergeben, drehe ich um und klettere vom Pass aus ein Stück querfeldein in die Felsen. Dort mache ich Mittagspause.
Bereits am frühen Nachmittag kehre ich zum Campingplatz zurück. Vor dem Abendessen habe ich noch viel Zeit, um das Rauschen der Helmet Falls und das Spiel des Sonnenlichts auf den Felswänden zu genießen. Ich lerne ein Vater-Tochter-Team kennen, das einen relativ kleinen Hund dabei hat. Sie stammen aus 150 Mile House und sind damit quasi Nachbarn. Ich frage mich, wie der Hund auf seinen kurzen Beinen die langen und anstrengenden Strecken schaffen will. Doch seine Besitzer versichern mir, dass er an solche Wanderungen gewöhnt sei. Man müsse ihm nur die heißesten Stunden des Tages ersparen. Die drei sind folglich morgens immer die allerersten auf dem Trail.
Entfernung | 13,1 km |
Dauer | 4 Std |
Inkl. Pausen | 7 Std |
Min. Höhe | 1754 m |
Max. Höhe | 2227 m |
Anstieg | 473 m |
Kum. Anstieg | 1053 m |
Kum. Abstieg | 926 m |
Am Morgen begrüßt mich erneut blauer Himmel. Die Sonne steht niedrig und muss erst noch ihren Weg in den Talkessel finden. Heute wird es ernst. Dreizehn Kilometer über zwei erhebliche Steigungen gefolgt von tiefen Tälern stehen an: zuerst über die Schulter des Limestone Peaks und dann über den Rockwall Pass.
Über zahlreiche, steile Serpentinen klettere ich mehr als 400 Höhenmeter aus dem Talkessel auf die Schulter des Limestone Peaks hinauf. Ich muss öfter verschnaufen, denn der Weg ist wirklich extrem steil. Von hier bietet sich einmal mehr ein wunderbarer Blick auf Helmet Falls.
Schließlich, nach einer letzten Serpentine, präsentiert sich mir das erste Mal die majestätische Rockwall.
Diese schier endlose, ihrem Namen alle Ehre machende Felswand überragt die gesamte westliche Seite des Wanderwegs.
Der Pfad verläuft nun bergab durch Wiesen und Lärchenwald. Ich verliere etwa 200 Höhenmeter zu einem Bach hinunter, nur um hinter dem Bach wieder bergauf zu kraxeln. Ich klettere über einen Hang aus Geröll, quere eine Moräne und gelange an einen türkis schimmernden Tarn.
Von der nächsten Anhöhe aus wird ein Gletschersee am Fuß der Rockwall sichtbar.
Es macht Sinn, den Rockwall Trail immer von Norden nach Süden wandern, auch wenn das morgendliche Gegenlicht der im Süden stehenden Sonne nicht ideal zum Fotografieren ist. Diese Richtung hat den Vorteil, dass man die Hauptanstiege morgens auf den schattigeren Nordhängen hinter sich bringen kann, während auf den von der Mittagssonne aufgeheizten Südhängen nur Abstiege anstehen.
Ich überhole ein Pärchen aus Victoria. Sie wandern wie ich zum Tumbling Creek Campground und ich werde sie heute noch öfter treffen. Für meine Mittagspause ziehe ich mich auf ein paar Felsen abseits des Weges zurück und raste bei herrlicher Aussicht inmitten von Wildblumen.
Nach insgesamt etwa 8,5 Kilometern überquere ich den Rockwall Pass. Hier hat man einen der eindrucksvollsten Ausblicke des gesamten Trecks.
Nicht weit hinter dem Rockwall Pass erreiche ich die Abzweigung zum Wolverine Pass. Dieser in einem Spalt zwischen Mt. Drysdale im Norden und Mt. Gray im Süden liegende Pass bildet die einzige Lücke in der Rockwall. Von hier führt der Dainard Creek Trail hinunter zu einer Schotterstraße außerhalb des Parks. Ich gehe knapp 150 Meter auf diesem Trail bis zu einem Aussichtspunkt auf die Purcell Mountains. Von einer kleinen Erhebung aus entdecke ich sogar die Bugaboos, die Teil der Purcell Mountains sind. Für ein Foto eignet sich die Aussicht auf die weit in der Ferne und im Dunst liegenden Berge jedoch nicht.
Der Tumbling Creek Campground, mein Ziel für heute, liegt 300 Meter unterhalb des Passes. Der Abstieg beginnt gemächlich. Der 3145 Meter hohe Tumbling Peak und der Tumbling Glacier auf seiner Nordostflanke dominieren die Landschaft.
Ich komme an einer unbeschilderten Abzweigung vorbei und zögere einen Moment, bevor ich geradeaus weitergehe. Später auf dem Campingplatz erfahre ich, dass sie zu einer Rangerhütte führt. Ich folge den von lichtem Wald gesäumten Serpentinen ins Tal hinunter. Sie sind steil und winden sich am Tumbling Creek entlang. Der Bach trägt seinen Namen zu Recht, denn er stürzt mehr als dass er fließt.
Der Tumbling Creek Campground breitet sich am Nordufer des Tumbling Creek aus und ist einer der schönsten Campingplätze im Backcountry, die ich bisher besucht habe. Er bietet 18 Plätze, die auf einem sehr großen Areal mit vielen Wiesen und Bäumen verstreut liegen. Es gibt gleich mehrere Essbereiche mit Picknicktischen und Metallboxen, die als sicheres Lager für die Vorräte dienen. Ich erkunde den Platz sehr genau, um den schönsten Standort zu finden.
Zwei Ranger sind gerade dabei, eines der Toilettenhäuser zu renovieren. Ich bedanke mich bei ihnen für diese unangenehme und mit Gestank verbundene Arbeit. Sie überraschen mich mit der Neuigkeit, dass sie vor kurzem die weggeschwemmte Brücke auf dem Tumbling Creek Trail ersetzt haben und damit eine der Exit-Route wieder offen ist. Man kann nun von hier den Rockwall Trail abkürzen und zum Highway 93S hinauswandern oder - alternativ - ihn dort beginnen.
Ich finde den idealen Zeltplatz an einem kleinen Nebenarm des reißenden Tumbling Creek. Er hat direkten Zugang zum Wasser, ist nicht allzu weit entfernt vom Essbereich und der Toilette und bietet darüber hinaus ein paar „Möbelstücke“ aus Baumstämmen, die ich als Tisch und Sitzgelegenheit benutzen kann. Sogar einen Ausblick auf den Gletscher gibt es von hier.
Es sind beste Voraussetzungen, um einen anstrengenden und überaus schönen Tag ausklingen zu lassen. Da gerade Vollmond ist, habe ich selbst mitten in der Nacht noch ein Zimmer mit Aussicht.
Entfernung | 8,1 km |
Dauer | 3 Std |
Inkl. Pausen | 4 ¼ Std |
Min. Höhe | 1525 m |
Max. Höhe | 2243 m |
Abstieg | 718 m |
Kum. Anstieg | 538 m |
Kum. Abstieg | 882 m |
Am nächsten Morgen steht der Vollmond immer noch am Himmel. Die Sonne scheint und es verspricht ein sehr heißer Tag zu werden. Ich verlasse den Campingplatz und wandere am Tumbling Creek entlang talwärts. Schnell erreiche ich die Weggabelung zwischen Rockwall Trail und dem wiedereröffneten Tumbling Creek Trail. Von hier sind es nur 10,5 Kilometer zurück zu den Paint Pots, meinem ursprünglichen Startpunkt. Ich bleibe jedoch auf dem Rockwall Trail, passiere die Brücke über den Bach und gehe auf der anderen Seite wieder flussaufwärts.
Über die nächsten drei Kilometer steigt der Pfad aus dem Tal hinaus. Am Tumbling Creek entlang gewinnt er nur wenig an Höhe, doch schon bald wird er steiler. Am Talausgang thront majestätisch die Rockwall. Meine heutige Tagesetappe beträgt nur etwas mehr als acht Kilometer, aber mit einem Anstieg von 340 Höhenmetern gefolgt von einem 700 Meter Abstieg hat sie es in sich.
Nachdem ich das Tal des Tumbling Creek verlassen habe, wandere ich am südlichen Abschnitt der Rockwall entlang, der mit Tumbling Peak und dem gewaltigen Gletscher seinen Anfang nimmt. Die Gipfel der südlichen Rockwall sind malerischer als die schroffe Kalksteinwand des Limestone Peaks in der nördlichen Hälfte, doch beide haben ihren eigenen Reiz.
Ich überquere den 2250 Meter hohen Tumbling Pass. Auf der anderen Seite erfreuen mich Almwiesen mit Wildblumen. Der genügsame rote Paintbrush wächst sogar in einer Felsspalte.
Auf den nächsten fünf Kilometern hinter dem Pass verliere ich sage und schreibe 700 Höhenmeter. Zuerst nur allmählich, aber dann schlängelt sich der Pfad in steilen Serpentinen durch eine mit niedrigen Büschen bewachsene Lawinenschneise. Es ist brütend heiß hier.
Am Ende des Abhangs ähnelt der Weg einem Tunnel durch einen Dschungel aus Weiden- und Erlengestrüpp. Um eventuelle Bären vorzuwarnen, mache ich mit lautem Rufen und Singen auf mich aufmerksam. Kein Bär, sondern ein anderer Wanderer kommt mir auf dem schmalen Pfad entgegen. Er ist schweißüberströmt und fragt scherzhaft an, ob es oben Bier gebe. Nein, kein Bier auf der Alm, und ich preise mich glücklich, dass ich im Gegensatz zu ihm in dieser Hitze nur noch den Berg hinunter muss.
Der Weg flacht sich ab und führt nun durch dichten Wald mit hohen Bäumen und üppigem Unterholz. Innerhalb von nur wenigen Kilometern bin ich durch ganz unterschiedliche Vegetationszonen gekommen.
Zahlreiche umgebrochene Bäume zeugen von häufigen Lawinen oder Stürmen in diesem Tal. Die Abzweigung zum Numa Creek Trail ist mit einem roten Band abgesperrt. Dieser Trail, der nach 6,5 Kilometern am Highway herauskommen würde, ist weiterhin geschlossen.
Ein Stück weiter erreiche ich mein Ziel, den Numa Creek Campground. Er hat 18 Plätze und befindet sich direkt am Numa Creek. Im Gegensatz zu den bisherigen Campingplätzen auf dem Rockwall Trail macht er einen ziemlich verwilderten Eindruck. Überall liegen umgefallene Bäume und zersägte Stämme herum. Besonders im hinteren Bereich gibt es so viele Baumstümpfe, dass man die Zeltplätze dazwischen kaum noch als solche identifizieren kann. Das einzige Toilettenhaus ist von Hunderten von Wespen besetzt. Außerdem stinkt es in der derzeitigen Hitze ganz abscheulich.
Da die vorderen Plätze am Fluss schon belegt sind, schlage ich mein Zelt weiter hinten im Wald auf. Kaum steht es, entdecke ich direkt daneben unter einer Baumwurzel ein weiteres Wespennest. Die Öffnung dort scheint jedoch nur ein Nebeneingang zu sein, denn die Menge der ein- und ausfliegenden Insekten hält sich in Grenzen. Wenigstens haben die Baumstümpfe und die umherliegenden Stämme den Vorteil, dass sie die meisten Zeltplätze mit einer rustikalen Möblierung ausstatten. So setze ich mich erst einmal an den runden „Picknicktisch“ vors Zelt und trinke einen Tee.
Ich bekomme Besuch vom Wanderkollegen aus 150 Mile House. Seine Tochter und er sind schon eine geraume Weile hier. Wegen des Hundes und der erwarteten heißen Temperaturen mussten sie heute besonders früh aufbrechen. Wir tauschen uns über die verheerenden Waldbrände des vergangenen Jahres aus. Genau wie 100 Mile House musste auch 150 Mile House für eine Zeitlang evakuiert werden. Einige Häuser dort brannten ab, doch ihres blieb zum Glück verschont.
Der Numa Creek ist reißend, doch ich finde eine relativ ruhige Stelle am Ufer, um meine müden Füße zu baden und ein paar Sachen zu waschen. Auch im schattigen Wald ist es heiß und schwül und das kühle Wasser sehr erfrischend.
In der Nacht kommt heftiger Wind auf und ein Gewitter geht nieder. Angesichts der feuchten Hitze des Vortags verwundert das nicht, und außerdem bedeutet „Numa“ in der Cree-Sprache „Donner und Blitz“. Während des Unwetters in der Nacht wird mir bewusst, dass man hier auf dem Campingplatz in einem tiefen Loch gefangen ist. Seitdem der Numa Creek Trail zum Highway gesperrt ist, müsste man im Ernstfall mindesten 700 Meter klettern, um zu entkommen. Glücklicherweise dauert es nicht lange, bis der Sturm endet und alles wieder still ist.
Entfernung | 9,6 km |
Dauer | 3 ¼ Std |
Inkl. Pausen | 4 ¼ Std |
Min. Höhe | 1540 m |
Max. Höhe | 2355 m |
Anstieg | 815 m |
Kum. Anstieg | 993 m |
Kum. Abstieg | 493 m |
Das Gewitter hat die Luft gereinigt und das Wetter ist wieder gut. Heute werde ich den höchsten Punkt auf der Wanderung erreichen: den 2355 Meter hohen Numa Pass. Zunächst geht es weiter durch dichten Wald am Numa Creek entlang, wo die Steigung nur sehr allmählich merkbar wird. Ich überquere mehrere Zuflüsse des Numa Creek und erspähe Foster Peak durch die Bäume.
Das Tal scheint häufig von Schnee- und Erdrutschen heimgesucht zu werden. Erneut durchquere ich eine Lawinenschneise.
Diese Brücke über einen Nebenfluss des Numa Creek würde sicherlich auch ohne das Verbotsschild nicht von Reitern benutzt. Selbst für Wanderer stellt sie wegen der wenigen Bodenbretter ein gewisses Problem dar.
Ein verwesendes Tier liegt am Wegesrand. Später beim Gespräch im Camp gibt es verschiedene Meinungen darüber, um was für einen Kadaver es sich handelt. Wegen des großen Schädels vermute ich, dass es ein Wolverine (Vielfraß) ist. Diese Tiere sind sehr menschenscheu, lebend würde man sie hier kaum vor die Kamera bekommen.
Der Weg führt stetig bergan und Foster Peak rückt näher. Ich erfreue mich am Anblick eines Wasserfalls.
Etwa drei Kilometer hinter dem Campingplatz stellt eine besonders lange Log-Brücke eine gewisse Herausforderung dar, denn mit dem schweren Rucksack auf dem Rücken balanciert es sich nicht so gut. Vorsichtig setze ich einen Fuß dicht vor den anderen. Ich bleibe im Gleichgewicht, aber mein Herz klopft rasend schnell. Es dauert eine Weile, bis es sich auf der anderen Seite des reißenden Wassers wieder beruhigt.
Eine Wanderin kommt mir entgegen und warnt mich vor einem Bienenstock hinter der nächsten Brücke. Deren Überquerung ist unproblematisch, doch dahinter finde ich nur ihren Zettel, keine Bienen. Vielleicht handelt es sich um ein Wespennest, aber auch davon sehe ich keine Spur. Mir soll es recht sein, denn ohne stechende Insekten sind mir die hübschen Wildblumen am Wegesrand viel lieber.
Der Weg wird nun deutlich steiler. Über Serpentinen gelange ich aus dem Wald heraus und erreiche die alpine Zone.
Das gehäufte Vorkommen von Lärchen kündigt an, dass die Passhöhe bald erreicht ist.
Der fantastische Ausblick auf das Tal, aus dem ich gekommen bin, lässt mich alle Strapazen des harten Aufstiegs vergessen.
Die letzte Steigung führt über einen mit Geröll bedeckten Hang bis auf den Pass hinauf.
Floe Peak und Floe Lake auf der anderen Seite des Passes bilden ein dramatisches Panorama aus Bergen, Eis und Wasser.
Floe Lake ist nach den kleinen Eisbergen (floes) benannt, die früher, als die Gletscher noch mehr Eis hatten, häufig im Wasser trieben. Heute sieht man sie leider nur noch selten.
Die Passhöhe ist mit einer Steinpyramide markiert. An dem Steinhaufen lehnt ein großes Schild mit der Aufschrift „Area Closed“. Zuerst halte ich es für einen Scherz, denn nach einem Aufstieg mehr als 800 Metern wird niemand umkehren. Wohin auch? Mir kommt das Gewitter der letzten Nacht in den Sinn, und mir fällt auf, dass die Luft seit einer Weile diesig ist. Ist es nur Dunst oder gar Rauch? Riechen kann ich nichts, und so setze ich meinen Weg nach Süden, hinunter zum Campingplatz am Floe Lake, entschlossen fort. Meine Mitwanderer, die vor mir vom Numa Creek Campground aufgebrochen sind, haben offensichtlich die gleiche Entscheidung getroffen, denn keiner von ihnen ist zurückgekehrt.
Ich erreiche den Floe Lake Campground, der gegenüber von den gewaltigen Gletschern direkt am See liegt. Die beiden Zeltplätze mit der besten Aussicht sind leider schon belegt. Alle anderen Zeltplätze befinden sich auf einem Hang hinter Bäumen. Ich finde einen schönen Standort oberhalb des Picknickbereichs. Es scheint ein alter Zeltplatz zu sein, der keine Einfassung mehr hat. Ich baue mein Zelt auf und geselle mich zu den Campern, die bereits an den Tischen in der Sonne sitzen. Es ist schon wieder so heiß, dass einige Verwegene sich im eiskalten Gletscherwasser erfrischen. Sie springen von einem Uferfelsen hinein und kommen prustend und gut abgekühlt wieder heraus.
Wir tauschen die letzten Neuigkeiten aus, sprechen über den Kadaver, die Bienen, die verrückten Brücken und natürlich über das merkwürdige Schild auf dem Pass. Der Weg vom Highway zum Floe Lake hinauf scheint weiterhin offen zu sein, denn zwei Tageswanderer sind ihn in aller Frühe hinauf gekommen. Das Rätsel bleibt vorerst ungelöst.
Bevor sich der Himmel zu sehr bewölkt, spaziere ich am Seeufer entlang und mache einige Fotos von diesem wunderbaren Ort.
Da ich für den nächsten Tag keine frischen Socken mehr habe, wasche ich ein Paar im See und lege sie neben dem Zelt zum Trocknen in die Sonne. Innerhalb weniger Minuten sitzen Hunderte von Fliegen darauf. Lästige Viecher, aber wenigstens stechen oder beißen sie nicht.
Am Nachmittag kreist ein Hubschrauber über uns, kein gutes Zeichen. Zudem berichten einige Mitcamper, dass sie von einem Aussichtsfelsen aus eine Rauchfahne im Südwesten entdeckt haben. Einen Augenblick später landet der Hubschrauber bei der Rangerhütte am Ende des Campingplatzes. Eine Rangerin steigt aus und teilt uns mit, dass wir alle evakuiert werden. Das Gewitter der vergangenen Nacht hat mehrere Waldbrände ausgelöst, woraufhin der Highway 93S und der Floe Lake Trail gesperrt werden mussten. Die beiden Tageswanderer vom Vormittag waren die letzten vor der Schließung. Wir werden aufgefordert, unsere Sachen so schnell wie möglich zusammenzupacken und uns bei der Rangerhütte zum Abtransport einzufinden.
Was für eine Aufregung! Normalerweise benötige ich für ein ordnungsgemäßes Einpacken meiner Ausrüstung mindestens eine Stunde. Nun aber stopfe ich meine Siebensachen wahllos in den Rucksack und, weil das schneller geht, in ein paar große Plastiktüten. Dann baue ich in Windeseile mein Zelt ab, das ich auf keinen Fall zurücklassen will. Als Solo-Wanderin muss ich ohne die Hilfe anderer auskommen, und bin daher die letzte, die mit Sack und Pack bei der Rangerhütte eintrifft. Dabei hätte ich mir ruhig etwas mehr Zeit lassen können, denn um 15 Leute zu evakuieren, wird der Hubschrauber mehrmals fliegen müssen. Während wir auf den Abflug warten, beruhigen sich die Gemüter langsam wieder. Laut Aussagen der Ranger besteht zurzeit keine akute Gefahr für uns, da das Feuer noch weit genug entfernt ist.
Meine Freunde aus 150 Mile House sind gleich auf dem ersten Flug und ihr Hund wird auf dem Schoss reisen. Wir verabschieden uns und wünschen uns im Hinblick auf die Waldbrandmisere vom vorigen Jahr alles Gute. Ich bin zusammen mit einer Familie aus Canmore und deren beiden Söhne für den zweiten Flug vorgesehen. Die beiden Jungen wirken zunächst etwas ängstlich, aber als der Pilot sie mit Helmen und Walkie-Talkies ausstattet, beginnen sie großen Spaß an dem Abenteuer zu haben. Während die Mutter bei den Kindern bleibt, wird der Vater, selbst ein Rettungshubschrauberpilot, von den Rangern als Hilfspersonal rekrutiert. Er ist für das sichere Aussteigen der Fluggäste am Landeplatz zuständig.
Da mein Aufenthalt am Floe Lake nun unfreiwillig und zu früh zu Ende geht, mache ich auf dem kurzen aber spektakulären Flug so viele Fotos wie möglich.
Bald schon zeigt sich das ganze Ausmaß des Waldbrands. dessen Rauchsäulen am südlichen Ende des Kootenay Tals in den Himmel steigen.
Der Hubschrauber setzt uns sicher auf einem Landeplatz südlich vom Floe Lake Trailhead ab. Wir werden angewiesen, am Straßenrand zu warten, bis uns ein Rangerfahrzeug zu unseren Autos zurückbringt. Da die Familie mit den Kindern genau wie ich am Painted Pots Trailhead parkt, warten wir gemeinsam, bis der letzte Transport gelandet und die Familie wieder vollständig ist.
Ein Ranger transportiert uns zu unseren Fahrzeugen. Wir erfahren, dass der gesamte Rockwall Trail evakuiert wird. Wanderer auf dem Numa Creek Campground werden genau wie wir per Hubschrauber ausgeflogen, während Camper, die am Tumbling Creek oder Helmet Falls Campground übernachtet haben, den Rockwall Trail umgehend zu Fuß verlassen müssen. So hatte ich mir das Ende meiner Wanderung nicht vorgestellt. Doch muss ich gestehen, dass ich eigentlich Glück im Unglück hatte: Meine Tour ist nur einen Tag kürzer als geplant und statt einer langen Bergabwanderung durch ein altes Waldbrandgebiet, darf ich einen kostenlosen Hubschrauberflug genießen. Darüber hinaus werde ich zurück zu meinem Auto chauffiert.
Auf einem menschenleeren Highway 93S fahre ich nach Castle Junction. Dort habe ich Handy-Empfang und rufe zu Hause an, wo man noch nichts über die jüngsten Ereignisse gehört hat. Es gelingt mir, meine Übernachtung im Dreamcatcher Hostel in Golden auf heute umzubuchen. Golden erstickt im Rauch, denn ringsum brennen Feuer. Ich verbringe eine heiße, stickige Nacht im Hostelzimmer.
Am frühen Morgen des nächsten Tages breche ich zur Heimfahrt auf. Zum Glück gibt es unterwegs nirgendwo Sperrungen und die Fahrt verläuft planmäßig. 2018 wird leider genau wie schon 2017 als ein Jahr mit schlimmen Waldbränden in die Geschichte British Columbias eingehen. Floe Lake ist ein magischer Ort, den ich gerne ausführlicher erkundet hätte. Ich werde irgendwann noch einmal dorthin zurückkehren.